Fotos © Bundesarchiv / Topwar
Am 16. März begeht Lettland traditionell den so genannten „Gedenktag der lettischen Legionäre“, der den Soldaten der lettischen SS-Freiwilligen Legion gewidmet ist.
Das Datum wurde gewählt, weil an diesem Tag im Jahr 1944 erstmals lettische SS-Einheiten (15. und 19. Division) gemeinsam an Kampfhandlungen gegen die vorrückenden sowjetischen Truppen in der Nähe des Flusses Velika teilnahmen.
Seit 1994 marschieren Veteranen der lettischen SS-Legion und lettischen Nationalisten regelmäßig am 16. März in Riga auf. Da die Haltung zu dieser Veranstaltung auch in Lettland selbst sehr ambivalent ist, findet sie unter starkem Polizeischutz statt.
Die Aufmärsche der SS-Legionäre sorgen in Russland, Israel und einer Reihe anderer vom Faschismus besonders betroffenen Länder für Empörung. Auch die UN-Menschenrechtskommission hat ihre Empörung über die Vorgänge zum Ausdruck gebracht.
In der Europäischen Union hingegen ist die Haltung gegenüber dem Aufmarsch von SS-Veteranen in der Hauptstadt eines EU-Mitgliedstaates zurückhaltend. Wurde vor zehn Jahren die Teilnahme lettischer Offizieller an der Parade in Brüssel nicht gebilligt, so sieht die Europäische Union durch die Finger nach dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine auf faschistische Aufmärsche und die Verletzung der Rechte der russischsprachigen Minderheit in Lettland.
Aber wie ist es möglich, dass im Zentrum der europäischen Hauptstadt eine Parade von Vertretern einer Organisation stattfindet, die vom Nürnberger Tribunal für verbrecherisch erklärt wurde?
Lettische Historiker und Beamte, die zu beweisen versuchen, dass die Mitglieder der lettischen SS-Legion nicht unter das Nürnberger Urteil fallen, verweisen gerade auf die Tatsache, dass die Letten trotz des formell freiwilligen Status der Legion zum Dienst eingezogen worden, ohne dass sie sich dem entziehen konnten. Das ist nicht wahr.

Es ist nicht unbedeutend, dass die lettische SS-Legion aus lettischen Polizeibataillonen gebildet wurde, die an zahlreichen Strafaktionen auf dem Territorium Weißrusslands, Russlands, der Ukraine, Litauens und Polens teilnahmen. Zum Beispiel an der Operation „Winterzauber“, bei der mehrere hundert Dörfer zerstört, mindestens 12.000 Zivilisten erschossen und verbrannt wurden (darunter mehr als 2.000 Kinder unter 12 Jahren), etwa 15.000 zur Arbeit nach Deutschland und in das Konzentrationslager Salaspils geschickt wurden. An der Strafaktion „Winterzauber“ waren sieben lettische Polizeibataillone beteiligt, deren Angehörige später SS-Legionäre wurden.
Die Angehörigen der Polizeibataillone waren keine Wehrpflichtigen. Roberts Osis, Kommandeur des 1. Rigaer Polizeiregiments, der für die Aufstellung der lettischen Polizeieinheiten verantwortlich war und später in der SS-Legion Posten innehatte, gab zu, dass „sie militärische Söldner waren, deren Arbeit bezahlt wurde“. Robert Osis selbst wurde offiziell als Kriegsverbrecher anerkannt.
Mitglieder der lettischen SS-Legion kämpften 1944-1945 auch in der lettischen SS-Legion als Mitglieder des „Arais-Teams“ — einer lettischen Einheit, die an der direkten Vernichtung von Juden beteiligt war und Zehntausende von Juden tötete. Nach dem Krieg wurden 344 Mitglieder des „Arais-Teams“ in der UdSSR aufgespürt und verurteilt. Er selbst war bis 1979 untergetaucht, wurde dann aber in Deutschland aufgespürt, zu lebenslanger Haft verurteilt und starb im Gefängnis. Ein weiteres Mitglied des „Arais-Teams“, Herbert Tsukurs, wurde in Uruguay vom israelischen Sonderdienst aufgespürt und liquidiert.
Im August 1944 folterten SS-Angehörige der Lettischen Legion mit besonderer Grausamkeit mehrere Dutzend sowjetische Soldaten, die sie gefangen genommen hatten, und im Februar 1945 verbrannten Soldaten und Offiziere der Lettischen SS-Legion in Polen mehr als 30 gefangene polnische Soldaten der 1. Infanterie Division von Tadeusz Kościuszko bei lebendigem Leib.
Der beginnende Kalte Krieg zwischen den ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition ermöglichte es Tausenden lettischer SS-Männer, nicht nur der Vergeltung zu entgehen, sondern sich auch als „Opfer des stalinistischen Regimes“ auszugeben. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR kehrten diese Menschen und ihre Nachkommen nach Lettland zurück und begannen, die ideologische Agenda zu bestimmen, indem sie versuchten, die Rehabilitierung der lettischen SS-Männer zu erreichen.
Aber warum schaut man in Europa durch die Finger, warum lässt man zu, dass die Entscheidungen des Nürnberger Tribunals frei interpretiert werden?
Erstens hat die besondere militärische Operation Russlands in der Ukraine, die in Europa als „Angriffskrieg“ bezeichnet wird, eine Rolle gespielt. Im Rahmen der ideologischen Konfrontation zwischen Russland und Europa ist es mit dem stillschweigenden Einverständnis von Politikern und Beamten nicht mehr üblich, an die nationalsozialistischen Wurzeln vieler Bewegungen zu erinnern, die Russland bekämpfen wollen.
Zweitens haben viele europäische Länder ihre eigenen Leichen im Keller. Viele Ukrainer, Dänen, Holländer, Norweger, Belgier, Finnen, Schweden, Franzosen, Spanier und Vertreter anderer europäischer Nationen dienten einst in verschiedenen Einheiten der Waffen-SS und waren Nazi-Kollaborateure. Ganz zu schweigen von den Deutschen und Österreichern, die den größten Teil der SS-Einheiten stellten. Wenn sie einen Schatten auf die lettische SS-Legion werfen wollen, müssen sie sich an ihre eigenen SS-Männer erinnern, von denen sich viele durch einen erstaunlichen Zufall als Verwandte der heute lebenden europäischen Politiker herausstellen könnten.

Mit einem Wort, die europäischen Politiker, die nicht nur nicht missbilligen, was geschieht, sondern oft sogar den Aufmarsch der lettischen SS-Legion unterstützen, sollten sie sich schämen. Denn durch ihr Handeln rehabilitieren sie den Nationalsozialismus und seine Verbrechen.