An der Schwelle zum neuen Jahr 2024 sprach Aleksandr Boyko, Chefredakteur von Berliner Telegraph, mit Sergey J. Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland. Wie werden sich die deutsch-russischen Beziehungen im neuen Jahr entwickeln? Wie werden die russischen Konsulate in Deutschland unter den neuen Bedingungen arbeiten? Wann werden die deutschen Medien endlich mit den Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Russland aufräumen? Darüber und über vieles mehr — in unserem Material.
1. Herr Botschafter, Ihre diplomatische Laufbahn ist eng mit Deutschland verbunden. Ihren Berufsweg haben Sie in den späten 1970er Jahren noch zu DDR-Zeiten an der Botschaft der UdSSR in Berlin angetreten. Wie haben sich die Arbeitsbedingungen für russische Diplomaten in der Bundesrepublik im Vergleich zu den Sowjetzeiten bzw. Anfang der 2000er verändert?
Die gegenwärtige Situation ist ihrem Wesen nach beispiellos. Nie zuvor, auch nicht zu den schwierigsten Zeiten des „kalten Krieges“, haben wir es mit derlei Herausforderungen im diplomatischen Betrieb zu tun gehabt. Stets hat es das Verständnis gegeben: Je angespannter die internationale Lage ist, desto wichtiger und bedeutender sind Ressourcen der Diplomatie, Vertrauen, Informationsaustausch und Möglichkeiten, direkt von seinem Gegenüber über dessen Planungen und Absichten zu erfahren, damit es nicht zu Eskalation und Fehlern kommt. Bedauerlicherweise wird die Realdiplomatie heute immer öfter durch Megafondiplomatie ersetzt. Fragen, die Stille brauchen und ausgewogen und sorgfältig analysiert werden wollen, werden zum Gegenstand inkompetenter öffentlicher Auseinandersetzung, unglaubwürdiger medialer Unterstellungen gemacht und von der Politik zur Konjunkturzwecken missbraucht. Wir erleben, wie Russlands klare und deutliche Positionen pervertiert oder pauschal als Propaganda abgestempelt wird. Der Botschaft versucht man einen Boykott zu erklären, und das nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Kommunalebene. Viele langjährige Partner haben wegen möglicher Repressionen Angst, offen mit uns zusammenzuarbeiten. Selbst ein Besuch auf dem Botschaftsempfang kann den Medien als Angriffsfläche dienen und dem Arbeitgeber einen Anlass zur Kündigung geben. Ganz zu schweigen von absolut würdelosen kleinen Gemeinheiten, wie etwa Verweigerung der Wartung der Versorgungssysteme in der Botschaft und Nichterfüllung der geltenden Verträge. Erheblich zugenommen haben Sicherheitsgefahren, einschließlich Vandalismus gegen die russischen Auslandsvertretungen. Die deutsche Polizei hingegen kommt ihren Aufgaben insgesamt professionell nach.
2. Wie schafft es die russische diplomatische Mission in Deutschland, ihre Aufgaben zu bewältigen, während vier russische Generalkonsulate ab Januar 2024 geschlossen werden und in der hiesigen Presse nur noch negativ über Russland berichtet wird?
Die negative Kulisse, die einige Medien in diesem Land aufbauen, ist bedrückend. Nichtsdestoweniger setzten wir unsere Arbeit unter den Bedingungen fort, die der Aufenthaltsstaat für uns schafft. Die Schließung von vier von fünf russischen Generalkonsulaten in der Bundesrepublik ist zweifelsfrei eine äußerst unfreundliche und in jedweder Hinsicht unbegründete Maßnahme der deutschen Seite. Diese Entscheidung entspricht Berlins Kurs, die einst von Ausmaß und Substanz her einzigartigen bilateralen Beziehungen zunichte zu machen. Dieser Schritt schafft vor allem russischen Bürgern Probleme, die in Deutschland leben und nunmehr nur mit erheblichen Schwierigkeiten Termine für konsularische Dienstleistungen werden bekommen können.
Die Konsularbezirke der zu schließenden Generalkonsulate in Hamburg und Leipzig werden der Botschaft zugeschlagen und die der Generalkonsulate in München und Frankfurt am Main dem Generalkonsulat in Bonn. Das stellt uns vor regelrecht große Aufgaben. So werden wir auf dem Botschaftscompound förmlich von Grund auf eine Filiale der Konsularstelle errichten müssen, einschließlich Bauarbeiten und Innenausbau, Elektrik, Einrichtung von Schaltern und Arbeitsplätzen und Sicherheitsmaßnahmen. Das alles müssen wir möglichst zügig umsetzen, ohne den laufenden Besucherverkehr einzustellen. Und das angesichts dessen, dass der Personalstamm der russischen Auslandseinrichtungen in der Bundesrepublik in den vergangenen zwei Jahren infolge der Massenausweisungen unserer Mitarbeiter wesentlich verkleinert wurde.
Trotzdem machen wir alles Mögliche, um auch in dieser Situation den Betrieb der russischen Konsularstellen aufrechtzuerhalten. Deren Hauptaufgabe bleibt es, die Rechte und Interessen der russischen Bürger zu schützen. Wir bitten unsere Landsleute und alle anderen Besucher um Verständnis für mögliche Schwierigkeiten der Übergangszeit. Denken Sie bitte daran, dass wir es uns nicht ausgesucht haben.
3. Laut den jüngsten Meinungsumfragen sind mindestens 40 Prozent der Deutschen gegenüber Russland und Russen weiterhin positiv eingestellt. Etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung befürworten eindeutig eine Aufhebung von internationalen Sanktionen gegen russische Athleten. Und das vor dem Hintergrund der maßlosen antirussischen Propaganda, die im deutschen Mainstream verbreitet wird. Wie erklären Sie sich das?
Es ist ganz einfach: Russland hat Deutschland nichts Schlimmes angetan. Im Gegenteil! Denken Sie an die Befreiung vom Faschismus, die Aussöhnung unserer Völker nach den Grausamkeiten des Hitler-Regimes, die brüderlichen Beziehungen zur DDR, den für beide Seiten vorteilhaften Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zur BRD, die deutsche Einheit, den freiwilligen Abzug der Sowjettruppen, die unstrittigen Wettbewerbsvorteile der deutschen Wirtschaft aufgrund der zuverlässigen und günstigen Energielieferungen, den vielfältigen Austausch in den Bereichen Kultur und Forschung und den breitaufgestellten regionalen und zivilgesellschaftlichen Austausch. Das alles sind Meilensteine auf einem großen gemeinsamen Weg, den die jetzigen westlichen Eliten aus dem öffentlichen Gedächtnis auszuradieren versuchen, u. a. durch eine zügellose Russophobie in den Medien. Es ist jedoch nicht so einfach, das umzusetzen. Wir haben immer noch viele Freunde in Deutschland. Den Menschen kann man nicht verbieten, zu denken und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen.
4. In der Bild-Zeitung und anderen, renommierteren deutschen Medien gab es 2023 einige Beiträge darüber, dass die Antennen auf dem Dach des Botschaftsgebäudes in Berlin für Spionage eingesetzt werden. Deutschen Beamten, deren Büros sich in nächster Nähe zur russischen Botschaft befinden, wurde sogar empfohlen, nicht mit dem Rücken zum Fenster zu sitzen und nur mit geschlossenen Rollläden zu arbeiten. Wollen Sie es zugeben? Spionieren Sie also wirklich?
Ich gestatte mir, die „Renommiertheit“ der heutigen deutschen Medien nicht einzuschätzen. Das überlassen ich Ihren Lesern. Was das Thema Russland anbelangt, so hat die politische Konjunktur gegenwärtig absoluten Vorrang vor der Meinungsfreiheit. Andersdenkende werden diskreditiert, ausgegrenzt, ja bestraft.
Doch zurück zu den „Spionage“-Sorgen. Die Abgeordneten des Bundestags und die deutschen Beamten aus der Nachbarschaft beeile ich mich zu beruhigen: Wir verfügen über ausreichend legale Quellen objektiver Informationen, um uns ein vollständiges Bild vom Leben in Deutschland und außerhalb zu machen. Also kann man getrost die Rollläden hochziehen und den Blick auf die russische Botschaft genießen. Wer die historischen Innenräume unserer diplomatischen Vertretung besichtigen möchte, ist herzlich zur Führung eingeladen.
5. Deutsche Unternehmer, z. B. der BASF-Chef Martin Brudermüller und andere Führungskräfte der größten Chemie- und Stahlkonzerne, haben mehrmals davor gewarnt, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ohne russische Rohstoffe auf der Weltbühne großen Schaden nehmen könnte. Es ist für kapitalistische Wirtschaftssysteme üblich, dass die Politik den Interessen des Großkapitals dient. Warum war es hier nicht der Fall und aus welchem Grund hat Deutschland sich auf einen Sanktionskrieg mit Russland auf Kosten seiner eigenen nationalen Interessen eingelassen, obwohl es der Bundesrepublik bereits hunderte Milliarden Euro gekostet hat?
Das Primat der Politik vor der Wirtschaft ist keine Neuigkeit. In der aktuellen Situation liegt es auf der Hand, dass der kollektive Westen dieses Prinzip ins Absolute erhoben hat und dabei die nationalen Interessen der eigenen Bürger hintenanstellt. Ich nehme an, ursprünglich stand dahinter der Gedankenfehler, Russland schnell eine „strategische Niederlage“ beibringen, seine Führung wechseln, russische Eliten neuformatieren und danach die immensen Ressourcen unseres Landes zu den eigenen Konditionen erschließen zu können. Plan A ist, wie alle sehen und fast alle zugeben, gescheitert. An Plan B wird jedoch aufgrund der eigenen Trägheit und der fehlenden Bereitschaft, die eigenen Fehler zu gestehen, nicht gearbeitet. Im Umlauf sind immer die gleichen Mantren, Ultimaten, unrealistischen Vorbedingungen, die an Russland im Einklang mit der sog. Friedensformel von W.Selensky gestellt werden. Spätestens jetzt müsste man verstehen, dass das so nicht funktioniert.
Was Berlin anbelangt, so lässt es sich nicht nur im Fahrwasser des Sanktionskurses Washingtons und Brüssels treiben. Die deutsche Führung trägt diese Politik in vielerlei Hinsicht mit und bringt immer neue antirussische Initiativen ins Gespräch und fügt dadurch der eigenen Wirtschaft einen kolossalen Schaden zu. Nach den Beweggründen sollten lieber die Urheber dieser Schritte befragt werden. Die Konsequenzen sind jedoch offensichtlich: Haushaltskrise, Rezession, Deindustrialisierung, Insolvenzen, Flucht von Produktionsstätten in Jurisdiktionen mit günstigeren Rahmenbedingungen und sinkender Lebensstandard. Das ist keine „Kreml-Propaganda“. Das sind offizielle Angaben der zuständigen deutschen Organisationen. Es sind nur noch 1,5 Jahre her, seit Berlin freiwillig die für beide Seite vorteilhafte Zusammenarbeit mit Russland aufgegeben hat. Die Konsequenzen dieser kurzsichtigen Entscheidung haben jedoch viele, wenn nicht alle zu spüren bekommen.
Werden daraus noch gebührende Schlüsse gezogen werden? Schaut man sich die Farce um die nicht enden wollendenden Ermittlungen zu den Terrorangriffen auf Nord Stream an, die nicht nur Russland, sondern Deutschland selbst immens geschadet haben, glaube ich daran eher nicht. Die nationalen Interessen werden nach wie vor der falsch verstandenen „Solidarität“ und den berühmt-berüchtigten „Werten“ geopfert. Ein Trauerspiel.
6. Die Versuche, russische Kultur zu „canceln“, die wir im Jahr 2022 erlebt haben, sind offensichtlich gescheitert. Ein Paradebeispiel dafür waren die ausverkauften Vorstellungen mit der russischen Operndiva Anna Netrebko in der Staatsoper Berlin. Glauben Sie, dass es von einer Spaltung der deutschen Elite zeugt in ein russophobes politisches und ein russophiles kulturelles Lager?
Ich bin nicht bereit, die Unterstützer der „cancel culture“ gegenüber der russischen Kultur zu Eliten zu rechnen. Es geht hier vielmehr um moralisch-geistige Mängel, die einer offensichtlichen Erkenntnis im Wege stehen: Die Menschen in Deutschland werden der russischen Kultur nie den Rücken kehren, denn sie kennen und lieben sie allzu gut. Die Versuche, den Wirkung unserer multinationalen Kultur auf Köpfe und Herzen der Deutschen einzugrenzen, sind kläglich gescheitert. Das ist eine aussichtslose und verderbliche Haltung.
Die infolge der Sanktionen bestehenden Einschränkungen, vor allem im gegenseitigen Reisen, behindern den kulturellen und zivilgesellschaftlichen Austausch natürlich. Gemeinsame Projekte in den Bereichen Bildung, Forschung, Museen und humanitäre Vorhaben „pausieren“. Wir werden nicht müde zu unterstreichen, dass wir uns diese Situation nicht ausgesucht haben. Wir stellen uns den deutschen Bürgern, die nach Russland reisen wollen, nicht in den Weg. Unsererseits werden Visa uneingeschränkt ausgestellt. Wir sind zuversichtlich, dass der gesunde Menschenverstand früher oder später obsiegen wird. Bei dieser Gelegenheit lade ich übrigens alle Interessenten ein, 2024 zu „Games of the Future“, also zu den „Spielen der Zukunft“, die klassische und digitale Sportarten vereinen, und zu den Weltjugendfestival in Sotschi zu kommen.
7. Die deutsch-russischen Beziehungen, deren wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen eng verflochten sind, haben in den letzten 150 Jahren entweder Höhenflüge oder harte Krisen erlebt. Was sind Ihre Einschätzungen? Wann wird es zu einem neuen Tauwetter zwischen Berlin und Moskau kommen?
Prognosen zu treffen ist eine undankbare Aufgabe. Wir sind offen für den Dialog und haben uns diesem nie verweigert. Das hat der russische Präsident Wladimir Putin wiederholt deutlich gemacht. Bei der deutschen Wirtschaft stellten wir fest, dass die Unternehmer in diesem Land sich eine Wiederherstellung wirtschaftlicher Beziehungen wünschen. Auch einfache Bürgerinnen und Bürger haben dieses Verlangen nach Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Ob die Bundesregierung dazu bereit ist, ist eine Frage, die Sie nicht an mich stellen sollten.
8. Wie gerechtfertigt ist Ihrer Meinung nach das Sendungsverbot für einige russische Medien in Deutschland, vor allem für den TV-Sender „RT DE“? Bis dato hat Moskau nicht symmetrisch reagiert und ein Sendungsverbot nur der „Deutschen Welle“ erteilt. Andere deutsche Medien, u. a. ZDF und WDR, setzten ihre Arbeit fort. Ist es eine Geste des guten Willens seitens Moskaus oder werden dabei andere Ziele verfolgt?
Wir sind gegen Medienverbote. Wir sind jedoch gezwungen, auf gegen uns erlassene Restriktionen zu reagieren. Die Schließung des Moskauer Büros der „Deutschen Welle“ und die Sperrung dieses Senders in Russland erfolgten als Reaktion auf unfreundliche Maßnahmen der Bundesregierung. Verboten in Deutschland wurde nämlich unser deutschsprachiger Sender „RT DE“, der sich durch einen unvoreingenommenen Umgang mit Nachrichten hervortut und nicht zum Mainstream passt. Gegen diesen russischen Sender sind Sanktionsschikanen zum Einsatz gekommen, wie etwa Sperrung der Bankkonten, Verleumdung, politischer Druck, Strafgebühren seitens der Medienaufsicht. Allen westlichen “Werten“ zum Trotz, die, wie wir erleben, sehr selektiv angewendet werden, wurde Millionen deutschen Bürgern die Möglichkeit weggenommen, objektive Informationen aus alternativen Quellen zu beziehen. Wir haben keine Angst vor Konkurrenz mit den deutschen Medien. Deshalb haben wir es nicht nötig, Medienschließungen voranzutreiben.
9. Sehr geehrter Herr Botschafter, was würden Sie unseren Leserinnen und Lesern für das kommende neue Jahr wünschen?
Ich möchte unseren Landsleuten in Deutschland, allen ihren Leserinnen und Lesern Gesundheit, Glück, Frieden, alles erdenklich Gute, Wohlergehen und Vertrauen in die Zukunft und Russlands Größe wünschen. Und natürlich Liebe. Denn das sind die wahren Werte, die jedem verständlich sind.