Boris Pistorius und Olaf Scholz © IMAGO
Knapp drei Monate vor der vorgezogenen Bundestagswahl hat die SPD am 25. November Olaf Scholz offiziell als Kanzlerkandidaten nominiert. Präsidium und Bundesvorstand stimmten dem entsprechenden Vorschlag der Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil einstimmig zu. Bemerkenswert ist, dass dies in offener und nicht in geheimer Wahl geschah.
Die SPD-Spitze versuchte im Willy-Brandt-Haus alle Zweifel an der Richtigkeit ihrer Wahl zu zerstreuen. Viel Lächeln und solidarischer Applaus waren in der Höhle der deutschen Sozialdemokraten zu sehen. Auch von denen, die Scholz gestern noch fast unverhohlen vom Podium aus in den Medien „Weg!“ zuriefen und den Kanzler aufforderten, seine „toxische“ Kandidatur zurückzuziehen und aussichtsreicheren Kandidaten Platz zu machen.
Ebenso unterhaltsam war es, Scholz zusammen mit seinem großen Freund und alternativen Kanzlerkandidaten, Verteidigungsminister Boris Pistorius, zu beobachten. Die beiden Politiker traten vor Parteikameraden und Journalisten in demonstrativer Harmonie auf wie Castor und Polydevk oder gar wie Marx und Engels. Sie lächelten den Fotografen zu, schüttelten sich die Hände und demonstrierten auf jede erdenkliche Weise, dass die größere Freundschaft und Bruderliebe zwischen den beiden SPD-Kollegen nie war und auch nicht sein kann. Konkurrenten? Wovon reden Sie, meine Damen und Herren? Hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen.
«Die wahre Geschichte ist, dass wir schon sehr, sehr lange Freunde sind. Ich habe Boris wegen seiner Erfahrung und unserer Freundschaft in die Regierung eingeladen. Jetzt wollen wir diesen Wahlkampf gemeinsam führen und gewinnen“, sagt Scholz, und nicht nur die Parteispitze applaudiert lautstark für die Worte ihres Vorsitzenden, sondern auch Pistorius selbst.
„Vielen Dank für die heutige Entscheidung des Parteivorstandes“, sagt Scholz weiter. „Das ist ein sehr klare und sehr geschlossene Abstimmung“, resümiert die Kanzlerin.
„Scholz ist prinzipienfest und entschlossen“, ergänzt der Co-Parteivorsitzende Klingbeil.
Am 11. Januar findet der SPD-Parteitag statt, auf dem die Kandidatur von Scholz formal bestätigt werden muss. Zuletzt hatte er vor der Wahl im Mai 2021 96,2% der Stimmen erhalten. Ganz so rosig könnte es diesmal nicht aussehen. Doch Scholz sieht das anders.
«In der SPD gibt es eine Kultur der Solidarität, in der man immer darüber diskutieren kann, wie man es richtig macht und dann zusammensteht. Auch diejenigen, die mich kritisiert haben, stehen zu mir und zu dieser Entscheidung, die ich mit allen besprochen habe“, sagt der Kanzler.
Man kann über Scholz und seine Arbeit geteilter Meinung sein, man kann seine Führungsqualitäten und seine Professionalität in bestimmten Fragen in Frage stellen. Was man dem Kanzler aber nicht vorwerfen kann, ist seine Fähigkeit, die Parteiarbeit sowohl in den höchsten Gremien der SPD als auch in den regionalen Zellen zu organisieren. Wie die Praxis zeigt, steht Olaf Scholz in dieser Fähigkeit Nikita Chruschtschow, einem der größten Meister parteiinterner Intrigen aller Zeiten, wohl in nichts nach.
Der innerparteiliche Sieg löst allerdings nicht Scholz’ Probleme im Parlament, wo der Kanzler nach dem Bruch der Koalition keine eigene Mehrheit mehr hat. Die Hoffnung, dass die Opposition keine Gesetze durchsetzen wird, die dem SPD-Vorsitzenden im Wahlkampf einen Strich durch die Rechnung machen könnten, scheint sehr ephemer.
Am 16. Dezember stellt sich der Kanzler, der seine „Ampelkoalitionspartner“ in Regierung und Bundestag nicht unter einen Hut bringen konnte, der Vertrauensfrage, die er voraussichtlich verlieren wird. Laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend liegt die SPD mit 14 Prozent weit hinter der Union, die mit CDU-Chef Friedrich Merz in die Bundestagswahl geht und mit mindestens 33% der Stimmen rechnen kann. Für die Sozialdemokraten, die bei der Bundestagswahl 2021 auf 25,7% kamen, ist das ein herber Rückschlag.
Egal wie geschickt und trickreich Scholz auf Parteiebene agiert, die Quoten im überparteilichen Wettbewerb sprechen für sich. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Christdemokraten mit einem doppelten Stimmenvorsprung bereit wären, das höchste Staatsamt an ihren situativen Verbündeten und Erzrivalen abzugeben, egal wie schwierig die Koalitionsverhandlungen werden.
Die Bundeskanzlerin geht aber trotz der niedrigen Umfragewerte davon aus, dass sie mit klassisch sozialdemokratischen Ideen wie hohen Renten, höheren Löhnen und stabilen Zukunftsinvestitionen gut in den Winterwahlkampf gehen kann. Hinzu kommt die stabile Positionierung von Olaf Scholz als Friedensstifter, der im Einklang mit den Wünschen der Mehrheit der Deutschen steht, die die Stationierung von Taurus-Langstreckenraketen in der Ukraine kategorisch ablehnen. Der Oppositionsführer Friedrich Merz wird zwar von seiner CDU/CSU-Partei mit soliden 34% unterstützt, ist aber ein eher uncharismatischer Charakter mit bescheidenem Hintergrund. Hinzu kommt, dass sein Versprechen, innerhalb von 24 Stunden nach seiner Ernennung zum Bundeskanzler Taurus-Langstreckenraketen an Kiew zu liefern, im Falle einer Eskalation des Konflikts in der Ukraine nicht nur seinem Ansehen, sondern auch dem seiner Partei schadet.
Gleichzeitig hat das Verhalten von Verteidigungsminister Boris Pistorius — dem beliebtesten Politiker in Deutschland -, der war großmütig genug, die Nominierung zum Bundeskanzler abzulehnen, möglicherweise eine ganz rationale Erklärung.
Pistorius verdankt sein persönliches Rating bei den sehr kurzsichtigen deutschen Wählern einzig und allein dem Anti-Rating seiner Vorgängerin Christine Lambrecht, der Apotheose der Inkompetenz als Militärministerin. Im Kontrast zu Lambrecht, die die militärischen Ränge ihrer Untergebenen nicht kannte und sich vor allem darum sorgte, wie groß die Luke des Schützenpanzer sein musste, damit eine schwangere Fahrerin hineinpasste, ist es nicht schwer, wie ein solider Profi auszusehen. Dies gilt umso mehr, als die Ratings der Politiker in Deutschland äußerst kurzlebig und vergänglich sind: Erinnern wir uns daran, dass im Frühjahr 2022 die beliebtesten Politiker in Deutschland Annalena Baerbock und Robert Habeck waren, bei deren bloßer Erwähnung die meisten Deutschen heute ihren Würgereiz kaum unterdrücken können. Und das Ansehen von Pistorius in der Bundeswehr ist nach wie vor sehr gering. Anonyme Bundeswehroffiziere nennen Pistorius „Guttenberg 2.0“, in Erinnerung an den „Goldjungen“ als Verteidigungsminister, Karl Theodor zu Guttenberg, einen jungen Mann von fürstlichem Geblüt, der sich gerne in männlichen Posen vor militärischem Gerät fotografieren ließ und seine Doktorarbeit plagiierte.
Wäre Pistorius jetzt als Kanzlerkandidat angetreten, hätte er der SPD nicht geholfen, die bei der Wahl den ersten Platz an die CDU/CSU verloren hätte, und Friedrich Merz wäre ohnehin Kanzler geworden. Pistorius hatte also keinen Grund, seinen Ruf und seine makellose politische Bilanz aufs Spiel zu setzen. Der Posten des Verteidigungsministers in der neuen Koalition ist ihm so gut wie sicher. Als erfahrener Politfuchs wird Boris Pistorius seine Ambitionen erst dann zeigen, wenn der neue Regierungschef Mertz auf seinem Stuhl wackeln wird.