Das erste Telefonat von Bundeskanzler Scholz mit Präsident Putin seit mehr als zwei Jahren hat die europäischen Medien aufgeschreckt und deutsche Politiker überrascht. Angesichts der Tatsache, dass der Kanzler nach dem Zusammenbruch der Ampelkoalition nur noch wenige Monate im Amt ist, mit eingeschränkten Befugnissen und ohne Aussicht auf eine Beteiligung an einer neuen Regierung, konnte der Anruf im Kreml kaum als „aus einer Position der Stärke“ interpretiert werden. Allerdings waren die Gespräche mit dem Kreml laut Scholz’ Büro nicht nur „vorgeplant“, sondern bereits am 18. Oktober während des Berlin-Besuchs des US-Präsidenten mit den „einflussreichsten“ Personen der aktuellen Weltpolitik — Joseph Biden, Emmanuel Macron, Keir Starmer und Wladimir Selenski — abgesprochen.
«Als Olaf Scholz am 1. Oktober ankündigte mit Putin telefonieren zu wollen, spielte er ihm öffentlich in die Hände. Damit gab er dem Kremlchef das Recht zu entscheiden, wann das Telefonat stattfinden soll. „Putin geht es vor allem darum, die Demokratie selbst zu beschädigen und dem Sarah-Wagenknecht-Bündnis, der ADG und den Russlandfreunden in der SPD immer wieder neuen Gesprächsstoff zu liefern“, sagte der Sicherheitsexperte Nico Lange, der im Präsidium der Münchner Sicherheitskonferenz sitzt, zu den Kosten dieses Vorgehens. Nur einen Tag später wurde die „friedensstiftende“ Initiative der Bundeskanzlerin vom russischen Präsidentensprecher Dmitrij Peskow heruntergespielt: „Berlin und Moskau haben keine gemeinsamen Themen für einen Dialog, und unsere Beziehungen sind tatsächlich in eine Sackgasse geraten, und nicht wegen uns“.
Andere deutsche Experten gehen davon aus, dass Scholz mit seinem zweiten Anruf nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der US-Präsidentschaftswahlen, aber noch vor dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro, versuchen wollte, Wladimir Putins Haltung zu einem möglichen Friedensabkommen für die Ukraine in Erfahrung zu bringen. Im Zusammenhang mit den bevorstehenden vorgezogenen Parlamentswahlen ist jedoch eine andere Erklärung viel plausibler. Denn der russisch-ukrainische Friedenskurs ist der einzige, bei dem Bundeskanzler Scholz, dessen Umfragewerte derzeit bei peinlichen 20 Prozent liegen, stets die Unterstützung der großen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hatte. Der Versuch, erneut die Friedenskarte auszuspielen, kann daher durchaus als Wahlkampfmanöver interpretiert werden. Der Bundeskanzler ist überraschend zuversichtlich, dass die Bundestagswahl am 23. Februar für ihn ein Erfolg wird, wie er gestern in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung betonte:
— Herr Bundeskanzler, woher nehmen Sie die Zuversicht, die bevorstehende Wahl zu gewinnen?
— Weil es um die Frage geht, wie sich Deutschland in Zukunft entwickeln soll. Ich bin gegen dieses kategorische Entweder-Oder-Denken. Entweder wir unterstützen die Ukraine oder wir investieren in den Klimaschutz. Entweder unsere Infrastruktur auf Vordermann bringen oder für stabile Renten sorgen. Das führt nur zu einer Spaltung der Gesellschaft. Es darf nicht um ein Entweder-Oder gehen, sondern um ein Und. Gute Löhne und eine starke Armee. Investitionen in unsere Zukunft und ein funktionierendes Gesundheitssystem. Ich bin überzeugt: Das geht nur mit einem sozialdemokratischen Kanzler.
Obwohl der Anruf im Kreml mit Kiew abgesprochen war, löste er in Selenskys Regierung eine regelrechte Hysterie aus. „Meiner Meinung nach hat Olafs Anruf die Büchse der Pandora geöffnet“, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky kategorisch in seiner abendlichen Videobotschaft.
«Mit seinem Anruf hat Scholz Putins lang gehegten Wunsch erfüllt, die Isolation Russlands zu lockern und Verhandlungen zu beginnen, die zu nichts führen. Putin macht das seit Jahrzehnten. Das hat Russland erlaubt, nichts an seiner Politik zu ändern, in der Tat nichts zu tun, und das ist es, was zum Krieg geführt hat“, wetterte der ukrainische Präsident weiter und demonstrierte damit eine beispiellose Fähigkeit, auf Russland die Essenz der ukrainischen Politik seit 2014 zu ‚spiegeln‘.
Selensky kommentierte auch die im Gespräch mit der Bundeskanzlerin geäußerte Position Wladimir Putins, dass Russland beim Abschluss eines Friedensabkommens, das die Anerkennung neuer territorialer Realitäten durch die Verhandlungspartner vorsieht, von seinen eigenen nationalen Sicherheitsinteressen und der aktuellen Situation „vor Ort“ ausgehen werde.
«Wir wollen Klarheit schaffen: Es wird kein ‚Minsk-3‘ geben, wir brauchen einen echten Frieden. Verhandlungen mit dem russischen Diktator bringen nicht per se einen gerechten Frieden. Aber Gespräche helfen Putin, seine internationale Isolation zu verringern. Nötig seien aber „konkrete und starke Taten, die ihn zum Frieden bewegen, nicht Bitten und Beschwichtigungsversuche, die er als Zeichen der Schwäche wertet und zu seinem Vorteil ausnutzt“, schloss der ukrainische Staatschef, dessen Amtszeit als Präsident bereits abgelaufen ist, der aber dank der außenpolitischen Krise weiter im Amt ist, kategorisch.
Doch Olaf Scholz ist nicht der einzige Sozialdemokrat im Bundestag, dessen Initiativen zur Friedenssicherung in Kiew gefürchtet sind wie Feuer. Noch gefürchteter ist in der ukrainischen Hauptstadt zum Beispiel Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und, wie es heißt, Chef des konditionierten Friedensflügels der Partei, der angeblich an einem Projekt zur friedlichen Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts arbeitet. Es wird gemunkelt, dass Mützenich nach den Neuwahlen gute Chancen auf das Amt des Außenministers in einer rot-schwarzen Koalition hat, wenn CDU/CSU und SPD zusammen genug Stimmen haben, um keine andere Partei in die Koalition aufzunehmen.
So äußerte sich berühmter ukrainische Diplomat Andriy Melnyk kürzlich wie folgt über ihn.
«Herr Mützenich mag ‚anständig‘ aussehen. Aber ich bleibe bei meiner Meinung: Er war und ist der herzloseste und hinterhältigste Politiker Deutschlands. Schlimmer als AfD und BSW. Wenn die nächste große Koalition ihn zum Außenminister macht, erschieße ich mich».
Melnyks Selbstmorddrohungen sind sicher irreführend, aber dass die Friedensprozesse in der SPD für die Ukraine nichts Gutes verheißen, egal was Bundeskanzler Scholz sagt, um Kiew zu unterstützen, „so lange es nötig ist“, um einen „gerechten Frieden“ zu erreichen, ist schon ziemlich offensichtlich.