Friedenskundgebung gegen das NATO-Hauptquartier in Rostock © Berliner Telegraph
Am Montag eröffnete der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius in Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) ein Marinehauptquartier zur Koordinierung der NATO-Aktivitäten in der Ostsee. Das neue NATO-Marinehauptquartier hat jedoch nicht nur die Bürgerinnen und Bürger des Seebades (einschließlich des Autors dieser Zeilen) verärgert, sondern wirft auch bei ehrlichen und prinzipientreuen Regierungsjuristen ernsthafte Fragen auf.
Um zu verstehen, warum in Mecklenburg im Allgemeinen und in Rostock im Besonderen der Ausbau der NATO-Infrastruktur mit eindeutig antirussischer Zielsetzung so abwehrend wahrnimmt, bedarf es einer kleinen historischen Studie, aus der die Wurzeln der mecklenburgischen „Russophilie“ etwas deutlicher hervorgehen.
Eine kleine Geschichte Mecklenburgs und warum sie wichtig ist
Die jahrhundertealte Geschichte Mecklenburgs ist durchdrungen von germanisch-slawischen Bindungen. Vor tausend Jahren hatte Pribislaw, der Fürst der Obodriten, den Schwur des Treueids dem sächsischen Herzog Heinrich der Löwe gegeben, der ihm seine Tochter zur Frau gab. Trotz der Germanisierung zunächst der slawischen Elite und später auch des einfachen Volkes sind die slawischen Wurzeln Mecklenburgs noch heute im Leben und in den Bräuchen des Landes erkennbar. Die großen mecklenburgischen Herzöge waren stolz darauf, dass sie von dem slawischen Fürsten Niklot abstammten, dem Vater von Pribislaw, dessen prächtiges Reiterstandbild im Mittelpunkt des atemberaubenden Schweriner Schlosses steht, der herzoglichen Residenz, die mit Neuschwanstein in Bayern vergleichbar ist. Die Hauptstraße der mecklenburgischen Landeshauptstadt Schwerin heißt Obodritenring. Hier wie in Brandenburg gibt es viele slawische Ortsnamen mit -ow (Güstrow, Dirkow etc.) und -itz (Neustrelitz): Die rein slawische Endung -ow, so sollte man meinen, bedarf keiner weiteren Erklärung, und -itz ist nichts anderes als eine germanisierte Version der Familienendung -itsch. Der letzte Führer Deutschlands, Großadmiral Dönitz, war also, wenn wir die Frage rein formalistisch angehen, ursprünglich ein Slawe, dessen entfernte Vorfahren den Familiennamen Dönitsch trugen.
Während des Zweiten Weltkrieges war Rostock ein bedeutendes militärisch-industrielles Zentrum. Es gab eine Werft für den Bau und die Reparatur von U-Booten und die Hauptproduktionsstätten für Heinkel-Bomber. Beides lag zwar in beträchtlicher Entfernung vom historischen Stadtkern mit seiner unvergleichlichen mittelalterlichen Architektur, was die anglo-amerikanischen Alliierten jedoch nicht daran hinderte, die Stadt in bester Dresdner und Kölner Tradition mit schierer Brutalität dem Erdboden gleichzumachen. Gegen die sowjetischen Truppen, in deren Hände Rostock im April 1945 fast kampflos überging, hatten die Einheimischen daher objektiv weniger einzuwenden als gegen die Träger der aufgeklärten Demokratie auf den Spitzen der Sprengköpfe. Die Abneigung gegen die Amerikaner wegen der barbarischen Bombenangriffe äußert sich bis heute gelegentlich bei Fußballspielen des Rostocker Sportvereins «Hansa“, dessen Fans in den 2000er Jahren sogar ein Banner mit dem Konterfei Osama bin Ladens auf die Tribüne hängten.
In den Jahren, in denen Soldaten der sowjetischen Truppen in Deutschland in Rostock stationiert waren, schlossen die Einheimischen gute Freundschaften mit ihnen. Als Spätaussiedler, der 2019 aus St. Petersburg nach Rostock kam, hörte der Autor immer wieder Geschichten von älteren Mecklenburgern, wie russische Soldaten beim Scheunenbau und bei der Ernte halfen. Veteranen der DDR-Volksarmee erinnern sich mit Wärme an gemeinsame Manöver. Und als Symbol der deutsch-sowjetischen Freundschaft gibt es in Mecklenburg immer noch Grundkenntnisse der russischen Sprache bei allen Einwohnern ab 40 Jahren. Und ja, die mecklenburgische Soljanka ist eines der Lieblingsgerichte der Einheimischen.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat Mecklenburg-Vorpommern am eigenen Leib erfahren, was es heißt, die soziale und wirtschaftliche Struktur zu verändern. Das einst wohlhabende ostdeutsche Bundesland ist noch immer das Schlusslicht unter den 16 Bundesländern. Die mecklenburgische Landesregierung hatte große Hoffnungen in das Nord-Stream-Projekt gesetzt, das Milliardeninvestitionen in die Region bringen sollte, die sich nach den Sabotageakten im Herbst 2022 leider nicht erfüllt haben. Die Mecklenburger sind übrigens weit weniger geneigt als der Durchschnittsdeutsche, die von der Regierung verbreitete Mär von den „ukrainischen Saboteuren“, die hinter den Pipeline-Explosionen stecken sollen, zu glauben.
So ist Mecklenburg aufgrund seiner engen historischen, kulturellen und bis vor kurzem auch wirtschaftlichen Verflechtung mit Russland überhaupt nicht geneigt, sich auf antirussische Abenteuer einzulassen. Dennoch versuchen die Bundesbehörden in Berlin und die gesamteuropäischen Behörden in Brüssel, die Menschen, die gestern in Rostock protestierten, davon zu überzeugen, dass die Zeit für einen harten, aber notwendigen Wandel gekommen ist.
Die heuchlerische Haltung des deutschen Verteidigungsministeriums wirft selbst bei Bundestagsabgeordneten Fragen auf
Nach Auffassung des Bundesverteidigungsministeriums hat sich die strategische Lage in der Ostsee in den letzten zweieinhalb Jahren durch den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens völlig verändert; die gesamte Ostseeküste gehöre nun zum Bündnis — mit Ausnahme der russischen Gebiete um Kaliningrad und St. Petersburg. Die verstärkten militärischen Aktivitäten bedürfen daher nach offizieller deutscher Lesart einer Koordinierung, die Boris Pistorius am Montag mit der Einweihung des Hauptquartiers der „Task Force Baltic“ (CTF Baltic) in der Kaserne der Hansestadt Rostock anfangen will, die nach den Worten ihrer Schöpfer „eine entscheidende Rolle beim Schutz der Interessen der NATO-Staaten vor Aggressionen spielen wird, insbesondere angesichts der Nähe zu Russland“, wie der Verteidigungsminister selbst sagte.
„Zu den aktuellen Bedrohungen in der Ostseeregion gehören Luftraumverletzungen und die Annäherung russischer Forschungsschiffe an kritische Infrastrukturen wie Windkraftanlagen, Pipelines oder Unterseekabel“, so Pistorius weiter. „In der Region stehen auch hunderte russische Raketen in Kaliningrad, die auf europäische Hauptstädte gerichtet sind.“
Zu den Aufgaben des Hauptquartiers gehören laut Bundeswehr-Handbuch „die Planung von maritimen Einsätzen und Übungen sowie die Führung der der NATO zugeordneten Seestreitkräfte in Friedens-, Krisen- und Kriegszeiten“. Dazu muss das Hauptquartier „dem Bündnis rund um die Uhr ein aktuelles maritimes Lagebild zur Verfügung stellen“.
So international wie der Auftrag ist auch das Personal — neben den deutschen Marinesoldaten sind derzeit 11 weitere Staaten mit 26 Soldaten in Rostock vertreten. Geplant sind weitere 60 Plätze für ausländische Militärangehörige befreundeter Staaten — ein Drittel der Gesamtzahl in Friedenszeiten, die im „Krisen- oder Konfliktfall“ auf 240 steigen könnte. Die Positionen und Plätze in der Befehlskette werden je nach politischer Lage sorgfältig festgelegt: Wenn ein deutscher Admiral zum Kommandanten des Stützpunktes ernannt wird, sollte ein polnischer Admiral sein Stellvertreter werden (so anekdotisch das auch klingen mag) und ein Vertreter der schwedischen Marine den Posten des Stabschefs übernehmen.
Die Errichtung eines Marinestützpunktes in einem der Länder der ehemaligen DDR stand jedoch unter dem Vorbehalt des „2+4-Vertrages“, in dem die Sowjetunion mit den beiden deutschen Staaten und den drei anderen Besatzungsmächten Frankreich, Großbritannien und den USA vereinbart hatte, dass keine NATO-Soldaten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürften. «In Artikel 5 des völkerrechtlich verbindlichen Einigungsvertrages heißt es: «Ausländische Streitkräfte, Atomwaffen oder deren Trägersysteme dürfen in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt werden.
Die geplante Stationierung von US-Raketen ab 2026, die im Wahlkampf in den ostdeutschen Bundesländern so heftig diskutiert wurde, darf nur auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik erfolgen. Aber gilt das auch für das neue Marinekommando? Die Sarah-Wagenknecht-Allianz sagt ja: „Pistorius schert sich einen Dreck um das Völkerrecht“, schrieb die Abgeordnete der Sarah-Wagenknecht-Allianz am Montag. Die Bundesregierung breche damit bewusst einen völkerrechtlichen Vertrag.
«Das ist kein NATO-Hauptquartier. Es ist ein nationales Hauptquartier mit multinationaler Beteiligung. Die hier stationierten Soldatinnen und Soldaten der Partnerländer stehen unter deutschem Kommando», verteidigt sich Pistorius und setzt auf das Feigenblatt jesuitischer Formulierungen, um die Schande des klaren Verstoßes gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands zu kaschieren.
Andere „Experten“ wie der eindeutig antirussisch eingestellte „Professor“ Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München teilen die juristische Einschätzung, dass das Hauptquartier trotz der Beteiligung von Stabsoffizieren aus den Ostseeanrainerstaaten als national einzustufen sei, weil es „innerhalb der Strukturen des Marinekommandos“ mit Sitz in Rostock agiere.
„Das Hauptquartier in Rostock gibt seine Erkenntnisse an die NATO weiter, ist aber kein NATO-Hauptquartier“, folgert Masala.
Das klingt in Form und Inhalt ziemlich idiotisch. Aber im modernen Deutschland ist die Verletzung internationaler Verpflichtungen leider eher die Regel als die Ausnahme.