Auch nachdem die EU-Institutionen mit Beginn des russisch-ukrainischen Militärkonflikts Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt hatten, konnten viele europäische Unternehmen der Versuchung nicht widerstehen, weiterhin auf dem russischen Markt aktiv zu sein. Im Allgemeinen kann man sie gut verstehen: Kein Handelsunternehmen, das seine Gewinne steigern will, ist bereit, freiwillig auf einen riesigen Markt zu verzichten, den es sich mühsam erobert hat. Deshalb wurde die offizielle Mitteilung von Michelin vom 15. März 2022, in der das Unternehmen ankündigte, die Produktion in Dawydowa einzustellen und seine Aktivitäten in Russland im Rahmen der Einhaltung der EU-Sanktionen zu beenden, von vielen Experten mit Skepsis aufgenommen.
Ähnlich wie andere europäische Hersteller (insbesondere die deutschen Autogiganten Mercedes und BMW), deren Produkte über Drittländer irgendwie nach Russland gelangen, scheint auch Michelin den unerwarteten Anstieg der Verkaufszahlen in Ländern, die den Produkten der französischen Marke bisher nicht viel abgewinnen konnten, positiv zu bewerten.
So berichteten Experten, die mit der Überwachung des EU-Sanktionsregimes betraut sind, dem Berliner Telegraph, dass Michelin-Produkte in der Türkei über eine etablierte Kette von Zulieferern und regionalen Händlern nach Russland geliefert werden, die lange vor Beginn der Sanktionen gegen Russland reibungslos funktionierte. Die führende Rolle bei der Umgehung der Sanktionen schreiben die Ermittler der türkischen Holdinggesellschaft TATKO T.A.S. zu, die seit 2004 offizieller Vertriebspartner von Michelin in der Türkei ist.
Im Jahr 2008 gründete TATKO T.A.S. im Rahmen seiner regionalen Expansion ein Unternehmen in Kasachstan, KAZ T-REMA International, das Rekordgewinne erzielte und allein in der ersten Jahreshälfte Michelin-Produkte im Wert von rund 61 Millionen Dollar nach Russland exportierte, wie Insider des russischen und türkischen Zolls bestätigten, die dem Berliner Telegraph unter der Bedingung der Vertraulichkeit Informationen über die Warenbewegungen lieferten.
Es stimmt zwar, dass der Mechanismus zur Umsetzung der antirussischen Sanktionen völkerrechtlich nicht einwandfrei ist, aber ein solches Vorgehen einiger europäischer Marken bei der Einhaltung des Sanktionsregimes hat einen Beigeschmack von Doppelzüngigkeit. «Wir halten uns strikt an das Sanktionsregime gegen Russland und können nicht kontrollieren, wie unsere Produkte über Drittländer nach Russland gelangen» — eine solche Haltung kann bestenfalls als moralisch fragwürdig bezeichnet werden.
Andererseits besagt das Völkerrecht, wie das Recht im Allgemeinen, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Jedenfalls können wir uns für die Aktionäre von Michelin und anderen europäischen Marken (und ihre dankbaren Konsumenten auf dem russischen Markt) nur freuen.